STILLE Die ersten Jahre meines Lebens habe ich in großer Stille verbracht, aber niemals war diese Stille klanglos. Im Mutterleib hörte ich ein gleichmäßiges Rauschen, ein Ticken und Pochen, ein Zerplatzen von Bläschen und von weit her den Klang menschlicher Stimmen, als säße ich auf dem Grund eines Dorfteiches.

Nach meiner Geburt hörte ich den Atem meiner Mutter, ihr Singen und Seufzen und, wenn sie mich an ihre Brust legte, das vertraute Pochen ihres Herzens. Verließ sie den Raum und ich blieb allein, setzte draußen der Regen ein, und sein leises Wasserflüstern lockte mich zum Grund des Teiches zurück.

Oben auf dem Teich schwammen plötzlich zwei Gesichter und riefen nach mir, holten mich mit ihren hohen Stimmen wieder an seine Oberfläche. Meine Brüder hatten sich über mein Bettchen gebeugt, und der laute Widerhall ihrer Stimmen, der scharfe Zacken in die Luft schnitt, war anziehender als das wohlbekannte Gluckern des Wassers. Ich streckte aufgeregt die Ärmchen nach ihnen aus, griff in ihre weichen Gesichter, schlüpfte mit meinem Zeigefinger wie eine feuchte Larve in ihre Münder, und sie antworteten mit lautem Kreischen, Glucksen und Jauchzen.

Im Dunkel der Nacht schoben sich die schorfigen Zweige der Rotdornbäume zusammen, und das leise Schmirgeln wie von rauhen Leintüchern, die zusammengefaltet werden, drang durch die halb geöffneten Fenster in unser Schlafzimmer. Das große hölzerne Ehebett meiner Eltern ächzte, mein Vater murmelte im Traum, meine Mutter schnarchte gleichmäßig, wie der Holzwurm, der unermüdlich im alten Kleiderschrank seine Gänge bohrte.

Wenn am Morgen das erste Licht durch die gelben Vorhänge sickerte, hörte ich das helle, scheppernde Plappern meines größeren Bruders. Er zog noch eine kleinere Büchse hinter sich her, die vorsichtiger schepperte, leiser, manchmal verlegen: das war mein anderer Bruder. Dazwischen lag das klare, getragene AHHH und OHHH meiner Mutter. Den ganzen Tag über hörte ich auf den Sing-Sang der drei Stimmen. Entfernte er sich von mir, blähte ich meine kleinen Lungen und schrie. Ich schleuderte hohe, spitze Schreie in den leeren Raum, bis der Gesang schnell hüpfend wieder auf mich zukam.

Nach einer Autofahrt und dem metallischen Knirschen unter einer schrecklichen Maschine, auf der ich festgeschnallt liegen mußte, veränderte sich alles um mich herum. Ich kam in einen Glaskasten, mein Bett stand an einem anderen Ort, ich konnte es nicht wiederfinden. Ich lag tief, ich konnte nicht mehr aufstehen, die Holme des Gitterbettes waren glatt und kalt, wie nichts, was ich je berührt hatte. Und wenn eine weiß gekleidete Frau das Gitter am Morgen und am Abend öffnete und schloß, raste ein Quietschen auf mich zu wie von einem entgleisenden Zug und zerschnitt mir den Körper.

Die Worte, die an meinem Bett von den weißen Kitteln gesprochen wurden, trafen sich hoch über dem Eisengestell, nicht eines fiel auf den weichen Grund meiner Matratze, nicht eines war für mich bestimmt. Die tiefere Stimme des Arztes war ungeduldig und abgehackt, die hellere der Schwester atemlos und schrill.

Die Stimme meiner Mutter hörte ich tagelang nicht. Das Plappern meiner Brüder war ganz verschwunden. Kein Ruf eines Vogels, kein Wiegen eines Zweiges im Wind drang durch das Isolierglas in meine Zelle. Das Metall meines Bettchens ächzte nicht, keine Holzdielen knarrten. Der PVC-Boden preßte seine geriffelten Lippen fest aufeinander und gab keinen Laut von sich. Nicht einmal die Heizungsrohre tickten, um mir den Herzschlag meiner Mutter vorzugaukeln.

In der Nacht breitete sich eine lautlose Schwinge von der Decke her Über meinem Bettchen aus und wurde schwerer und schwerer. Sie senkte sich mit ihrem ungeheuren Gewicht auf meinen kleinen Körper, nahm mir die Luft und preßte meine Brust zusammen. Ich wagte nicht mehr zu atmen.

Mitten in das Dunkel fuhren auf einmal zwei gleißende Lichtstrahlen. Die Tür öffnete sich, und eine alte Frau in einem schwarzen Kleid beugte sich über mein Bett. Als sie sah, daß ich wach lag, streichelte sie mir den Kopf. Der Stoff ihres Gewandes, der von der Stirn über ihre Schulter bis zu ihren Armen hinabfiel, glitt nach vorn und bedeckte für einen Augenblick auch mich. Sie schob mir sanft ein weiches, dehnbares Zipfelchen in den Mund, das nach Gummi roch. Mein verödeter Mund schloß sich sofort darum und begann zu saugen. Sie sprach kein Wort, ich hörte nur das Klopfen ihres Herzens und das Schmatzen der zerplatzenden Speichelbläschen am Schnuller und war beruhigt.

Doch bald verließ die Nonne den Raum, und ich lag wieder allein. Ein hohes zischendes Winseln entwich dem Sauger; fast entglitt er mir, aber mein Mund schnappte schnell zu, und sein weicher Nippel lag für die ganze Nacht zwischen meinen Lippen wie eine Bohne in ihrer Schote. Ich drehte mich auf den Bauch, legte mein Gesicht in die schweiß-feuchte Kuhle, die mein Hinterkopf vor Angst in die Matratze gegraben hatte. Die Mulde war warm und feucht und roch wie die Brust meiner Mutter. Ihr Rund umschloß mich und schützte mich vor der dunklen Schwinge. Ich saugte mit Kraft und Ausdauer, einem Herzmuskel gleich, der Blut ansaugt und wieder abpumpt. Meinen Daumen und Zeigefinger legte ich in die lappige Muschel meines Ohres und rieb sie unermüdlich aneinander. Das feine, glatte Schmirgeln klang wie die schwielige Hornhaut meiner Mutter, wenn ihre warmen Hände über meinen Rücken glitten.

Ich war getröstet, fast zu Haus, und fiel endlich in Träume.

Die letzte Veröffentlichung

  • Die Einsamkeit der Ministerin
    Die Einsamkeit der Ministerin

    Die Menschen, von denen Simone Frieling erzählt, befinden sich alle in einer Umbruchsphase, in der das alte Leben keine Gültigkeit mehr hat und das neue noch nicht fest umrissen ist. Ein unvorhergesehenes Ereignis zwingt sie, ihr Leben neu zu bewerten. Die einen erleiden den Umbruch schicksalshaft, die anderen steuern sehnsüchtig

Veranstaltungen

  • Keine Veranstaltungen
  • Simone Frieling auf Facebook